Schriftimport aus China
Warum ist die japanische Schrift so kompliziert? Warum braucht sie drei verschiedene Formen? Die Spurensuche führt weit zurück in die Vergangenheit. Lange Zeit besaßen die Menschen in Japan keine Schrift, um ihre Erinnerungen und Sagen festzuhalten. Das änderte sich erst, als zwischen dem 3. und 5. Jahrhundert die chinesischen Schriftzeichen zu den abgelegenen japanischen Inseln gelangten.
Wie lange das chinesische Schriftsystem seinerseits bereits bestanden hatte, ist nicht eindeutig belegt. Die ältesten bisher gefundenen Zeichen auf Tierknochen und Schildkrötenpanzern stammen aus der Zeit um 1400 vor Christus. Da damals jedoch schon etwa 5000 Zeichen existierten, müssen die Anfänge noch weiter zurückliegen, wahrscheinlich um 8000 vor Christus.
Bei der Übernahme der chinesischen Zeichen gab es jedoch ein großes Problem: Die chinesische und japanische Sprache besitzen sowohl phonetisch als auch grammatikalisch keinerlei Ähnlichkeit. Das Chinesische kennt im Gegensatz zum Japanischen beispielsweise nur einsilbige Laute und hat keine grammatikalischen Endungen.
Deswegen wurden die Schriftzeichen, im Japanischen Kanji genannt, bald nicht nur als Piktogramme (das Bild Baum bedeutet auch Baum), sondern auch als Zeichen genutzt, die für eine bestimmte Aussprache stehen. So konnten die Japaner auch Wörter schreiben, die es im Chinesischen nicht gab.
Kanji – die chinesischen Schriftzeichen
Kanji bedeutet nichts anderes als "chinesische Schriftzeichen" (abgeleitet von "Han" = chinesisches Volk, "ji" = Schriftzeichen). Japaner benutzen sie für Substantive, Verben und Adjektive. Insgesamt gibt es etwa 50.000 Zeichen, darunter auch eine kleine Zahl in Japan entwickelte Kanji. Die Mehrzahl ist allerdings identisch mit den chinesischen Schriftzeichen. Chinesen können also bei einem japanischen Text grundsätzlich verstehen, worum es geht – auch wenn sie die Grammatik nicht kennen.
Mündlich wird es jedoch problematisch, denn die Aussprache ist in beiden Sprachen eine völlig andere. Um es noch komplizierter zu machen, kennen Japaner außerdem noch verschiedene Aussprachen für ein Zeichen. So kann das Symbol für Baum "boku", "moku", "ki" oder "ko" gelesen werden und bedeutet dementsprechend auch etwas anderes.
Ein Durchschnittsjapaner kennt längst nicht alle Schriftzeichen, sondern nur knapp 3000 Zeichen – diese reichen auch, um eine Zeitung zu lesen. Traditionell verlaufen die Zeilen von oben nach unten und gelesen wird von rechts nach links. Durch den westlichen Einfluss wird aber immer häufiger auch waagerecht und von links nach rechts geschrieben.
Chinesische Schriftzeichen werden auch in Japan verwendet – hier das für "Tee"
Hiragana – "Schrift der Frauen"
Es waren höfische Dichter, die im 7. und 8. Jahrhundert aus künstlerischen Gründen damit begannen, die chinesischen Zeichen von ihrer Bedeutung zu lösen und nur als Lautzeichen zu verwenden. Daraus entwickelten sich die beiden Silbenalphabete Hiragana und Katakana mit je 46 Zeichen. Dabei steht jedes Schriftzeichen für eine Silbe.
Hiragana entstand im 9. Jahrhundert und wurde ursprünglich "Schrift der Frauen" genannt, da dieses Schriftsystem zunächst von adeligen Frauen verwendet wurde. Für sie galt das Lernen von Kanji als unangemessen. Man kann theoretisch jeden japanischen Text nur in Hiragana schreiben – auch Kinder lernen zunächst nur diese Schrift.
In der Regel verwenden Japaner die Silben jedoch nur für grammatikalische Endungen, die im Chinesischen unbekannt sind, oder für Wörter, für die es kein Kanji gibt oder für die das Kanji relativ unbekannt ist. In Zeitungen werden bei wenig bekannten Kanji kleine Hiragana-Zeichen darüber oder – bei senkrechter Schreibweise – rechts daneben geschrieben.
"Kraft", geschrieben in Hiragana
Katakana – für alles Fremde
Katakana wurde nur kurze Zeit nach Hiragana von buddhistischen Mönchen entwickelt. Sie sind als eine Art Abkürzung von komplizierten Kanji entstanden und wurden ursprünglich auch zum Mitschreiben bei religiösen Vorträgen verwendet.
Heute benutzen Japaner sie in der Regel für Fremdwörter, ausländische Wörter (zum Beispiel "aisu kurīmu" für Speiseeis, aus dem Englischen "ice cream") oder zum Hervorheben von Wörtern (vergleichbar mit unserer Kursivschrift). Katakana ist eckig und kantig, während Hiragana ein weiches und rundes Erscheinungsbild hat.
Durch die beiden Silbenschriften haben Japaner den Vorteil, dass sie auch Dinge ausdrücken können, für die sie das Kanji nicht kennen. Chinesen kennen entweder das richtige Zeichen oder können das Gewünschte gar nicht ausdrücken.
"Speiseeis" in Katakana geschrieben
Romaji – Anpassung an den Westen
Durch die zunehmende Nähe zum Westen müssen Japaner sogar noch eine viertes Schreibsystem lernen: Romaji, das lateinische Alphabet.
Der US-amerikanische Arzt und Missionar Dr. James Curtis Hepburn verfasste 1867 das erste japanisch-englische Wörterbuch und entwickelte dafür ein lateinisches Transkriptionssystem, das Hepburn-System. Es gibt daneben noch andere Transkriptionssysteme; das Hepburn-System ist im Westen aber am gebräuchlichsten. Japanische Schüler lernen lateinische Buchstaben im Englisch-Unterricht und brauchen sie später, um am Computer schreiben zu können.
Denn verständlicherweise gibt es keine Tastatur, die alle japanischen Schriftzeichen umfassen würde. Deswegen geben Japaner das Wort zunächst in lateinischen Buchstaben ein. Der Computer zeigt daraufhin die möglichen Schriftzeichen an, sodass man das richtige auswählen kann.
Tastaturen mit lateinischen Buchstaben sind üblich
Geht es auch ein bisschen einfacher?
Weil selbst die Japaner ihre eigene Schrift nicht einfach finden, gab es mehrere Schriftreformen. 1945 wurde die Zahl der im Alltag gebräuchlichen Kanji auf 1850 reduziert und die Schreibweise vieler Kanji vereinfacht. China sperrte sich gegen diese Reform und führte stattdessen in den 1950er-Jahren eine eigene Vereinfachung der Schriftzeichen ein.
Westler fragen sich angesichts der komplizierten japanischen Mischschrift oft, warum die Japaner nicht die simple Buchstabenschrift einführen oder nur in Hiragana schreiben. Dagegen sprechen gewichtige Gründe: Erstens wäre die alte Literatur nur noch für Gelehrte lesbar. Bei der Übersetzung in die lateinische Schrift und in Hiragana würden viele Feinheiten verloren gehen.
Zweitens gibt es im Japanischen viele Wörter, die zwar gleich klingen, aber durch ein anderes Schriftzeichen ausgedrückt werden. In lateinischen Buchstaben oder Hiragana könnte man sie nicht mehr auseinanderhalten.
Drittens können Japaner durch die kurzen Kanji einen Text viel schneller lesen als Westler mit ihren langen Wörtern. Am schwersten wiegt aber wohl dieses Argument: Wer seine Schrift aufgibt, gibt einen Teil seiner Kultur auf.
(Erstveröffentlichung: 2010. Letzte Aktualisierung: 11.03.2021)
Quelle: WDR