Japan
Der Shintoismus – Weg der Götter
Kein Gründer, keine Lehre, keine heilige Schrift: Die Naturreligion Shintoismus ist für Ausländer schwierig zu verstehen. Sie kennt viele Götter und existiert friedlich neben dem Buddhismus. Viele Japaner sehen sich sowohl als Shintoisten als auch als Buddhisten.
Von Mareike Potjans
Von göttlichen Wesen und dem Tod
Im Leben Shintoist, im Sterben Buddhist – diese Formel ist zu kurz, um die komplexe Beziehung zwischen Shintoismus und Buddhismus in Japan zu beschreiben, aber sie gibt einen ersten Hinweis auf den Charakter der Naturreligion. Der Shintoismus ist lebensbejahend und interessiert sich vor allem für das Hier und Jetzt. Die Frage nach dem Tod spielt keine herausragende Rolle.
Weil der Shintoismus kein tröstliches Jenseits kennt, greifen die meisten Japaner bei diesem Thema auf den Buddhismus zurück und lassen ihre Angehörigen nach seinem Brauch bestatten, in der Hoffnung auf das erlösende Nirwana.
Die shintoistische Vorstellung vom Tod existiert parallel: Stirbt ein Mensch, bleibt seine Seele ("tama") zwischen 33 und 49 Jahren auf der Erde und übt weiter Einfluss auf die Lebenden aus, um danach in das Reich seiner eigenen Ahnen einzugehen. Er wird eins mit den Familien-"kami", den göttlichen und übernatürlichen Wesen.
Alle können im Shintoismus "kami" sein, egal ob gut oder böse: Menschen, Tiere, Bäume, Pflanzen, Berge oder Meere. Der Shintoismus vergöttert die Natur, zu der auch der Mensch gehört. Deswegen stehen die Shinto-Schreine meist an landschaftlich besonders schönen Stellen.
Shinto-Priester am Meiji-Schrein
Babys im Schrein
Für die Geburt ist im Gegensatz zum Tod klar der Shintoismus zuständig. Neugeborene werden am 31. oder 32. Tag ihres Lebens zu Mitgliedern des Schutzschreines ihrer Eltern gemacht, indem Mutter, Kind und meist noch andere Familienmitglieder den Schrein besuchen.
100 Tage nach der Geburt heißt der Priester in einer Zeremonie das Kind willkommen: Er wedelt mit einem Zweig des heiligen "sakaki"-Baumes oder einem "gohei", einem Stab mit Papierstreifen, über den Kopf den Kindes, um es zu reinigen.
Erster Schreinbesuch mit dem Baby
Zeitalter der Götter
Auch der Shintoismus hat einen Schöpfungsmythos, der sich allerdings allein dadurch stark vom christlichen unterscheidet, dass es keinen allmächtigen Gott gibt, sondern mehrere Götter. Überliefert ist der Mythos durch das Werk "Kojiki", das vom höfischen Gelehrten Ono Yasumaru 712 zusammengestellt wurde, und die Schrift "Nihon Shoki", im Jahr 720 von mehreren Gelehrten verfasst.
Diese beiden Werke sind im Gegensatz zur Bibel und zum Koran keine göttlichen Offenbarungen, sondern Chroniken, die von den göttlichen und menschlichen Generationen seit der Schöpfung der Welt erzählen. Beide berichten vom japanischen Schöpfungsmythos:
Am Anfang war die Welt ein flüssiges, wirbelndes Chaos, das sieben Generationen lang von "kami" bewohnt war. In achter Generation entstanden die Gottheiten Izanagi und seine Schwester Izanami. Sie schufen mit einem mit Juwelen besetzten Speer die Insel Onogoro.
Nun bekommt der Mythos viele Nebenstränge und wird etwas kompliziert. Kurz erzählt geht er so: Auf der bereits geschaffenen Insel vereinigen sich Izanagi und Izanami und bekommen – nach einem fehlgebildeten Kind – viele "kami".
Izanami gebärt außerdem die anderen Inseln der japanischen Inselkette und Izanagi erschafft die Sonnengöttin Amaterasu, den Mondgott Tsukiyomi und den Sturmgott Susanoo. Amaterasus Nachkomme Jimmu Tenno wiederum wird der erste Kaiser. Mit dem Beginn der kaiserlichen Dynastie endet das "Zeitalter der Götter".
Shinto als Staatsreligion
Der japanische Kaiser ("tenno") spielte im Shintoismus schon immer eine besondere Rolle: Er stammt laut Schöpfungsmythos von der Sonnengöttin Amaterasu ab und ist auch oberster Shinto-Priester. Das heißt, er führt die wichtigsten Zeremonien durch, die das ganze Land betreffen: vor allem das "niinamesai", das Kosten des neuen Reises, und das "toshigoi no matsuri", die Bitte um gute Ernte.
Mit der Meiji-Restauration, die 1868 im Namen des damaligen Kaisers Mutsuhito die Samurai-Herrschaft abschaffte und den Kaiser zum Zentrum eines zentralisierten Nationalstaates machte, wurde seine Position noch wichtiger: Er wurde zu einem "kami" ernannt, einer shintoistischen Gottheit.
Mit der Übersetzung muss man jedoch vorsichtig sein: Gott bedeutet in der polytheistischen Religion des Shintoismus, in der alle Japaner nach ihrem Tod zu "kami" werden und in der auch besondere lebende Menschen "kami" sein können, etwas anderes als im Monotheismus, in dem es nur einen Gott gibt.
Trotzdem änderte sich mit der Einführung des Staats-Shinto einiges: Die Verehrung des Kaisers als Oberpriester und der Shinto-Schreine wurden zur staatsbürgerlichen Pflicht. An der Spitze der Schreine standen die Großen Schreine von Ise, südöstlich von Nara in der Präfektur Mie. Die heiligste und am meisten verehrte Stätte ist über 1700 Jahre alt und zwei Göttinnen gewidmet: der Sonnengöttin Amaterasu und der Erntegöttin Toyouke.
Kaiser Mutsuhito
Extremes Reinigungsritual
Alle 20 Jahre passiert etwas Besonderes in Ise: Die Schrein-Gebäude werden abgerissen und durch detailgetreue Nachbildungen ersetzt. Man will so eine unreine Vermoderung des Holzes verhindern. Außerdem sollen die beiden hier beheimateten Göttinnen auf diese Weise neue Kräfte bekommen, um das Kaiserhaus und die Reisernte zu beschützen.
Eigentlich sollen alle Shinto-Schreine in diesem Turnus neu errichtet werden, aber wegen der hohen Kosten leistet man es sich nur an besonderen Orten.
Die Ise-Schreine zählen immer noch zu den wichtigsten Schreinen in Japan, obwohl die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg den Staats-Shinto wieder abschafften und die Trennung von Religion und Staat beschlossen.
Die kaiserlichen Zeremonien wie Hochzeiten, Thronbesteigungen und der jährliche Besuch des Meiji-Schreins in Tokio beruhen allerdings bis heute auf dem Shintoismus – auch wenn es offiziell nur die privaten religiösen Praktiken einer Familie sind.
Das Ritual der Reinigung ist im Shintoismus zentral. Der Abriss und Neubau von Schreinen ist nur eine extreme Form davon. Täglich beobachten kann man, wie sich Shintoisten vor dem Betreten des Schreins den Mund und die Hände mit Wasser reinigen. Dafür steht vor jedem Schrein ein Wasserbecken mit Schöpfkellen, die aber nicht mit dem Mund berührt werden dürfen. Mit diesem Ritual sollen böse Geister ferngehalten werden.
Böse Geister sollen mit der Reinigung vertrieben werden
Friedliche Koexistenz mit dem Buddhismus
Der Shintoismus ist tief mit der japanischen Kultur verknüpft und älter als sein Name. Die Bezeichnung "Shinto" ("Weg der Götter" beziehungsweise "Weg der kami") wurde erst notwendig, um ihn vom Buddhismus ("Weg des Buddha") abzugrenzen, als dieser im 6. Jahrhundert nach Christus nach Japan kam. Erste Bestandteile des Shintoismus tauchten wahrscheinlich gegen Ende der vorgeschichtlichen Yoyoi-Kultur auf (um 300 vor bis 300 nach Christus).
Wegen seiner toleranten Götter und seines offenen Verständnisses darüber, wer göttlich, also "kami" sein kann, hatte der Shintoismus kaum Probleme mit anderen Religionen, die nach Japan kamen. Vor allem mit dem Buddhismus fanden sogar Vermischungen statt: So wurden zum Beispiel viele buddhistische Gottheiten als "kami" verehrt und in buddhistischen Tempeln befanden sich kleine Shinto-Schreine.
Erst irdische Herrschaftsansprüche des Kaisers machten dieser Praxis 1868 mit dem Staats-Shinto ein vorübergehendes Ende: Ein Dekret bestimmte die Trennung von Buddhismus und Shintoismus. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges können Japaner wieder beide Religionen praktizieren.
Tor vor dem Yasaka-Schrein in Kioto
(Erstveröffentlichung: 2010. Letzte Aktualisierung: 11.03.2021)
Quelle: WDR