Eine Frau macht in der Dämmerung Yoga am Strand.

Achtsamkeit

Achtsamkeit aus medizinischer Sicht

Das Achtsamkeitstraining "Mindfulness-Based Stress Reduction" (MBSR) stammt vom Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn. Die Wirksamkeit der Achtsamkeitspraxis wurde in vielen medizinischen Studien untersucht.

Von Melanie Kuss

Die eigenen Schmerzen und Beschwerden akzeptieren

Das Achtsamkeitstraining MBSR des Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn war von Anfang an sehr erfolgreich. Er entwickelte es Ende der 1970er-Jahre, um Schmerzpatienten ihren Dauerschmerz zu erleichtern. In Deutschland wird MBSR erst seit den 2000-Jahren angeboten.

Mit dieser Methode lernen Patienten ihre volle Aufmerksamkeit auf den aktuellen Moment zu lenken und dabei ihre Gedanken, Körperempfindungen und Sinneseindrücke zu beobachten, ohne zu bewerten. Dadurch entwickeln sie mehr Akzeptanz, Beschwerden werden als weniger quälend empfunden.

Die Psychologin Anja Koch, die an der Universität Jena in einer Metaanalyse die Wirksamkeit des achtsamkeitsbasierten Stressbewältigungstrainings überprüfte, erklärt die Wirkung so: "Nehmen wir Menschen mit chronischen Schmerzen. Die denken häufig 'Das tut wieder furchtbar weh. Heute bin ich wieder krank vor Schmerz, ich muss mich unbedingt schonen'. Das ist ein Teufelskreis aus negativen Gedanken, Gefühlen und Verhalten, und der potenziert den Schmerz. Mit MBSR lernen sie, all das auf den Satz zu reduzieren: 'Ich habe eine körperliche Empfindung, mehr nicht'. Das heißt 'akzeptieren': Einfach wahrnehmen, ohne Urteil und ohne emotionale Verstrickung. Die Akzeptanz beendet nebenbei den Teufelskreis."

Wirkung ist wissenschaftlich belegt

Obwohl Patienten die positive Wirkung der Achtsamkeitspraxis immer wieder betonten, war sie unter Wissenschaftlern lange nicht anerkannt. Die sogenannten bildgebenden Verfahren, wie die Magnetresonanztomografie (MRT), liefern nun seit einigen Jahren hochaufgelöste Bilder der Hirnstruktur und machen sichtbar und belegbar, was im Gehirn durch Achtsamkeitsmeditation geschieht.

Seitliche Aufnahme eines menschlichen Gehirns aus dem Kernspintomographen.

Regelmäßiges achtsames Meditieren verändert das Gehirn

So haben Forscher am Bender Institute of Neuroimaging an der Universität Gießen beobachtet, dass regelmäßiges achtsames Meditieren bestimmte Gehirnbereiche verändert. Der Mandelkern schrumpft – hier sitzt unserer Angstzentrum. Der Hippocampus wächst – er ist für Gedächtnisfunktionen zuständig.

Auch die Gehirnsubstanz, die unsere Aufmerksamkeit steuert, kann schon nach relativ kurzer Zeit des Meditierens wachsen. Die Forscher entdeckten außerdem im orbifrontalen Kortex von Meditierenden mehr graue Zellen. In dieser Hirnregion soll verhandelt werden, wie Menschen Situationen beurteilen und emotional auf sie reagieren.

Das Praktizieren von Achtsamkeit beeinflusst auch die Zusammensetzung unseres Blutes. Der Mediziner Tobias Esch von der Hochschule Coburg hat in einer Studie die Wirkung der sogenannten Benson-Meditation molekularbiologisch nachgewiesen: Durch achtsames Meditieren verändern sich die Hormonpegel im Blut und reduzieren so den Stress.

Mittlerweile wird die Achtsamkeitsmeditation von vielen Krankenkassen anerkannt. Viele Kassen zahlen einen Zuschuss zu MBSR-Kursen. Wer an der Achtsamkeitsmeditation im Rahmen einer Psychotherapie interessiert ist, kann sich einen Verhaltenstherapeuten suchen, der mit dieser Methode arbeitet. Die Kosten für Verhaltenstherapien werden in der Regel von den Kassen übernommen.

Hilfreich für schwerkranke Patienten: Achtsamkeitsmeditation

Viele medizinische Studien haben die Wirksamkeit der Achtsamkeitspraxis bei unterschiedlichen Krankheiten untersucht. Sie soll etwa Patienten mit Rückenschmerzen und Migräne helfen. Auch im Bereich der Essstörungen, bei der Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms (ADHS), bei psychischen Problemen, Depressionen oder Angststörungen wurde Achtsamkeitstraining erfolgreich eingesetzt.

Patient im Computertomographen wird von Arzt behandelt.

Achtsamkeit hilft in der Schmerztherapie

Tumorpatienten können mithilfe der Achtsamkeit die Therapie besser durchstehen. In den Kliniken Essen-Mitte wird Krebspatienten Achtsamkeitsmeditation vor und nach ihrer Operation sowie begleitend zur Chemotherapie angeboten.

Die Meditation sei zwar kein Mittel zur Behandlung einer körperlichen Erkrankung, aber begleitend könne sie sehr wirksam sein, sagt Anna Paul von der Klinik Essen-Mitte. "Stress kann auf Dauer das Immunsystem schwächen. Umgekehrt wird es gestärkt, wenn der Patient entspannt ist."

Dass MBSR das Immunsystem selbst schwer kranker Menschen stärkt, hat eine Studie der Universität Chicago nachgewiesen. 75 Brustkrebspatientinnen wurden in zwei Gruppen eingeteilt: Eine praktizierte nach der Operation MBSR, die andere nicht. Bei den regelmäßig meditierenden Frauen normalisierte sich die Aktivität der Zellen im Immunsystem, bei der Kontrollgruppe hingegen nicht.

Zu einem weiteren beachtenswerten Ergebnis kamen Forscher der Universität von Massachusetts durch eine kleine Studie, bei der sie schwer erkrankte Menschen mit Schuppenflechte (Psoriasis) in zwei Gruppen einteilten: eine, die neben der üblichen Behandlung Achtsamkeit trainierte, und eine Kontrollgruppe. In der meditierenden Gruppe waren nach einem zwölfwöchigen Training zehn von 13 Patienten beschwerdefrei, in der Kontrollgruppe hingegen nur zwei von zehn.

Die Ärzte, die die Hautverbesserungen im Rahmen dieser Studie beurteilten, wussten nicht, mit welcher Therapie die Patienten behandelt wurden. Die geringe Zahl der Testpersonen schränkt die wissenschaftliche Aussagekraft der Studie allerdings ein.

Achtsamkeit als Prävention

Achtsamkeitstraining wird ebenfalls eingesetzt, um Rauchern das Rauchen abzugewöhnen oder Alkoholabhängige davor zu bewahren, rückfällig zu werden. Von kontinuierlich angewandter Achtsamkeitsmeditation können auch völlig gesunde Menschen profitieren.

Viele subjektiv empfundene Wirkungen sind tatsächlich nachweisbar: Die Menschen werden wacher und aufmerksamer, können besser mit Stress umgehen, ihr Immunsystem wird gestärkt und sie werden wohlwollender – mit sich selbst und auch anderen gegenüber. Das alles führt schließlich zu mehr Lebensfreude und Zufriedenheit.

(Erstveröffentlichung: 2014. Letzte Aktualisierung: 06.05.2021)

Quelle: WDR

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